Kristel, 2016

Text von Johann Trupp

Sich verlieren und wiederfinden

Über den Film Der Termin

und die Verabredung sind

zwei Wörter, die ein und denselben

Vorgang beschreiben:

Ein Treffen von mindestens

zwei Personen zu einem vorher

festgelegten Zeitpunkt

und an einem in gemeinsamer

Abstimmung vereinbarten

Ort. Eine Begebenheit des

Alltags. Fest eingeschrieben

in eine Kultur, in ein soziales

Gewebe, umrahmt von Verhaltensnormen

und Sprache.

Was aber geschieht, wenn die

vorher eingeübten Normen

und sprachlichen Verzweigungen

einbrechen und kein

Bestand mehr haben. Da der

eigene soziale und kulturelle

Standpunkt sich auf mehrere

tausend Kilometer in ein Vakuum

des Neuanfangs verschoben

hat. Dann müssen

kulturelle Gepflogenheiten

und vor allem der neuen

Sprache innewohnende Feinheiten

entdeckt und verinnerlicht

werden. So wie der

Unterschied zwischen dem

Termin und der Verabredung.

Das Wort Verabredung wird

beispielsweise im privaten

Zusammenhang benutzt.

So wird es einem der Protagonisten

in dem Dokumentarfilm

Zweite Heimat erklärt,

während er mit zunächst verlorenem

Blick aus dem Bildausschnitt

hinausstarrt. Er

versucht die Erläuterung zu

überh.ren und ist erst nach

mehrmaliger Aufforderung

durch den Lehrer wieder konzentriert

auf einen Raum, auf

einen kulturellen Sachverhalt,

welcher sich auf der Tafel im

Wort Verabredung manifestiert.

Diese Anfangsszene im Jahr

2016 bei einem Deutschkurs

für Männer – in klarer, dokumentarischer

Videoästhetik

aufgenommen – skizziert auf

subtile Weise ein Phänomen,

welches besonders Menschen

mit Entwurzelungserfahrung

bekannt vorkommen könnte.

Physische Neuorientierung bei

gleichzeitiger geistiger Abstinenz,

ein paralleler Zustand

des Sich-verlierens und Wiederfindens.

Der Verlust der eigenen Heimat,

des eigenen sozialen Ankers,

hervorgerufen durch

Krieg im Herkunftsland, vereint

die meisten Protagonisten

des Films, welche im

Stadtteil Westliches Ringgebiet

in Braunschweig, eine

zweite Heimat und auch sich

selbst wiederfinden wollen;

wenn dies denn überhaupt

möglich ist … Genau dieser

Frage geht der japanische Regisseur

Takashi Kunimoto,

aus einer intrinsischen Motivation

heraus, nach. Vor vier

Jahren selbst aufgrund des

Atomunfalls in Fukushima

aus Japan nach Deutschland

gezogen, stellt er sich die Frage,

ob es so etwas wie eine

zweite Heimat, einen Ort

mit vergleichbar stark ausgeprägter

Bodenhaftung wie

bei der ersten geben

kann. Dabei entstehen

einige der intimsten

Momente des

Filmes. Der Filmemacher

zeigt sich und seine

Suche nach Antworten, indem

er Gedanken über die

eigene Zukunft und der seiner

Familie in Untertiteln

verpackt. Die persönlichen

Äußerungen verbinden sich

hervorragend mit den teils

sehr klar formulierten Aufnahmen

der neuen Bewohner

des westlichen Ringgebiets.

Die so erwirkte vielschichtige

und melancholische

Grundstimmung des

gesamten Films findet sich

auch in den verlorenen Blicken

seiner Gesprächspartner

wieder. So z.B. bei einem jungen

syrischen Arzt, der sich

zumindest beruflich in der

Position als Assistenzarzt in

der Notaufnahme wiedergefunden

hat und wie er bei

der Feststellung, nie

wieder nach Hause

zurückkehren zu können,

in einen Zustand

des Sich - verlierens

zurückf.llt. Oder bei den syrischen

Jugendlichen, die hinund

hergerissen sind zwischen

Verhaltensweisen einer

unbefangenen Jugend und

einer vom Krieg und Tod desillusionierten

Kindheit.

Blicke, die abschweifen, Gespräche,

die durch Sprachbarrieren

ins Stocken geraten,

kleine Momentaufnahmen

von privaten

Begegnungen,

die womöglich Verabredungen

genannt wurden,

vermitteln auf sehr intensive

Art und Weise das Gefühl der

Entwurzelung und die immer

noch andauernde Suche

der Protagonisten nach ihrer

zweiten Heimat.

Diese innere Zerrissenheit

wird allerdings manchmal

von einer zu gradlinigen Bildsprache

mit teils unausgewogenen

Farbkonturen überlagert.

Daraus entsteht der

Eindruck, dass die filmische

Umsetzung der inhaltlichen

Tiefe des Filmes nicht vollkommen

gerecht wird.

Die Anfangsfrage, ob eine

zweite Heimat möglich wäre

wird zwar nicht beantwortet,

der Regisseur aber schafft es,

die Protagonisten jenseits

von der politischen Tagesordnung

als Menschen

mit gewaltsam zerstörter

Zukunft in

einem neuen Strukturgebilde

zu zeichnen,

wo ein Ankommen möglich

ist.

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